Donnerstag, 1. Dezember 2005

Sokrates

Wie kann einer, dem man die Formulierung »Ich weiß, dass ich nichts weiß« in den Mund gelegt hat, als Weiser und als Redner in die Geschichte der Philosopie und der Rhetorik eingehen?

Ärmlich gekleidet und mit scheinbar ganz harmlosen Fragen verwickelte Sokrates die Menschen auf Straßen und Plätzen in Gespräche, in denen die Angesprochenen oft zur Freude der Zuhörer ihr Nichtwissen eingestehen mussten. Selbst Dichter und Staatsmänner stellte er bloß, um vorgebliches Wissen zu entlarven; so auch mit der berühmten, meist aber nur verkürzt wiedergegebenen Formulierung: »Jener glaubt etwas zu wissen, weiß aber nichts; ich weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nichts zu wissen.« Mit seiner schonungslosen Offenheit verschaffte er sich natürlich auch Feinde, die allerdings nicht verhindern konnten, dass Sokrates bald zahlreiche Schüler aus den besten Familien Athens hatte.

Obwohl er sich in den Feldzügen gegen Sparta mit Tapferkeit und Durchhaltewillen für seine Stadt eingesetzt hatte, wurde er von der demokratischen Partei als Ideengeber der Adligen verdächtigt und unter dem fragwürdigen Vorwurf, neue Götter einführen und die Jugend verführen zu wollen, angeklagt. Zwar priesen seine Schüler seine rhetorischen Fähigkeiten in den höchsten Tönen: Hört aber einer dich selbst oder einen anderen deine Reden vortragen, wer sie hört, alle sind wir außer uns und ganz davon hingerissen.« Als es aber zum Prozess kam, konnte auch seine brillante Verteidigungsrede die Richter nicht von seiner Unschuld überzeugen. Zu provokativ war wohl seine Antwort, als er selbst das Strafmaß vorschlagen durfte: Man solle ihn im Rathaus speisen lassen - was in Athen als höchste Auszeichnung galt! Wie nicht anders zu erwarten wurde er zum Tode verurteilt. 399 v. Chr., im Alter von 70 Jahren, nahm der große Philosoph und Redner den Giftbecher - die Gelegenheit zur Flucht lehnte er ab.
Da er im Gegensatz zu seinen Nachfolgern Platon und Aristoteles keine schriftlichen Quellen hinterlassen hat, haben wir nur indirekt Kenntnis von seiner Philosophie: Sein Ziel war es wohl, Wissen und Handeln miteinander in Einklang bringen; das begründete Wissen um das Gute sollte die Menschen zum rechten Handeln veranlassen.

Bedeutsam für die Rhetorik aber wurde seine Fragetechnik, die nach ihm benannte »sokratische Methode«. Er selbst hat sie mit der Hebammenkunst seiner Mutter verglichen: Durch geschickte Fragen wollte er anderen zur Geburt ihrer Ideen verhelfen. (Diese »Mäeutik« geht davon aus, dass ein Großteil des Wissens zwar unbewusst im Menschen schlummere und durch geschicktes Fragen erweckt werden könne, aber ebenso kritisch hinterfragt werden müsse.) Zuvor müsse man sich aber vom Scheinwissen befreien, gegebenenfalls bis zur bitteren Selbsterkenntnis, dass man vieles nicht sicher weiß - als Mensch im Gegensatz zu den Göttern auch nicht sicher wissen könne. Diese Einsicht in das Nichtwissen ist Ausgangspunkt für das Streben nach Erkenntnis, die gemäß seiner Philosophie das tugendhafte Handeln nach sich ziehen sollte. Diese kritische Überprüfung der eigenen Kenntnisse ist nicht nur Grundlage einer jeden redlichen Rhetorik, darüber hinaus ist dieses dialogische Prinzip bis auf den heutigen Tag eine wesentliche Methode des Schulunterrichts.

Auch unter einem weiteren Aspekt spielt Sokrates eine nicht unwesentliche Rolle: Er übernahm zwar von den Sophisten einige Anregungen zur Fragetechnik, lehnte aber die sophistischen Wortspielereien und Gedankenverdrehungen ab. Nach der Anschauung der Sophisten gebe es nämlich keine absolute Wahrheit, daher könne man zu jedem Thema eine beliebige Meinung vertreten und allein durch Überredung dem Unrecht zum Sieg verhelfen. Gegen diese Auffassung, die die Rhetorik von der Philosophie löste und zu einem beliebigen Werkzeug herabstufte, wandte sich Sokrates mit allem Nachdruck. Ihm ging es um begründetes Wissen, Reden und Handeln, um die Verknüpfung von Philosophie und Rhetorik. Wo ihm dies nicht gegeben erschien, machte es ihm allerdings Spaß, das Scheinwissen seiner Mitmenschen zu entlarven.

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